Weniger werden

Es fühlt sich komisch an, dass ich dir schreibe. Aber irgendwie muss ich mir das von der Seele reden. Du bist ein guter Zuhörer, das weiß ich. Ich will nicht chatten, nicht posten, kein Video auf TikTok stellen, kein Foto auf Insta hochladen. Obwohl ich mir das erste Mal ein wenig gefalle. Eigentlich bin ich so schön wie nie zuvor.

Doch zunächst von Anfang an. Ich habe den gesamten Chatverlauf mit Nadine gelöscht. Sie hat Stefan gesagt, dass ich ihn mag. Ich bin sicher, dass es Sarah war, die sie dazu überredet hat, aber das ist Nebensache. Nadine kennt mich seit der ersten Klasse und sie weiß: Das Allerheiligste ist mir Stefan. Stefan, der ein bisschen aussieht wie Avicii, den es nicht mehr gibt. Die Haare jedenfalls und die Augen. Stefan, der mir seit der Ersten gefällt. Stefan, der es nie erfahren hätte dürfen, dass ich in ihn verliebt bin. Ich habe doch keine Chance bei ihm gehabt! Bis jetzt. Vielleicht findet er mich so, wie ich nun aussehe, gut. An meinem Akzent wird er sich hoffentlich nicht stören. Viele sagen, sie würden das gar nicht erkennen, dass ich von woanders herkomme. Ich habe mir aber auch wirklich Mühe gegeben über die Jahre. Unzählige Stunden bin ich vor dem Spiegel gestanden und habe die Aussprache geübt. Diese verkorksten Eigenheiten und Laute der deutschen Sprache mit meiner Zunge, meinen Lippen imitiert. Meine Brüder Leopold und Ferdinand haben es besser erwischt. Beide sind bereits hier geboren. Meine Eltern konnten es gar nicht glauben, dass der Erste von uns ohne Akzent, Leopold, seine schönen Worte verloren hat. Als hätte er sie verschluckt. Als wären sie hinter der Maske verschwunden. Die Maske, die auch er als fast Siebenjähriger seit mehr als einem halben Jahr in der Schule tragen muss. Sofern überhaupt Schule ist. Leopold hat echt schön gesprochen, bevor er damit aufgehört hat. Wie einer von hier eben. Die verräterischen Zisch- und Reibelaute, die zarten Vokale kamen nie aus seinem Mund. Nur aus jenem von Papa, Mama und mir. Auch Ferdinand wird ein makelloses Deutsch sprechen. Wenn er erst mal reden kann. Er ist ja noch ein Baby. Ein Coronababy.
Seit Leopold nicht mehr spricht, kommt regelmäßig so eine vom psychosozialen Dienst. Weil auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie alles voll ist. Aber Leopold würde dort ohnehin nicht alleine bleiben. Mama muss doch bei Ferdinand sein, Papa muss arbeiten.

Ich habe mir schon nach dem ersten Lockdown gedacht, dass Leopold das nicht schafft. Er ist ein sehr sensibles Kind.

Und ich? Ich bin im distance learning. Die Lehrer checken es einfach nicht. Keiner passt auf. Alle Kameras sind off. Aber damit ist nun Schluss, schreibt der Herr Direktor. Nach den Ferien gibt es neue Regeln. Eine davon lautet: „Kameras an!“ Das ist voll krass, echt. Als ob uns der Lehrstoff interessieren würde. Also mich jedenfalls nicht mehr. Ich chatte lieber während der online-Stunden. Mit Nadine. Bevor sie gepetzt hat zumindest. Sarah ist auch in unserer Gruppe, leider. Ich dachte, Nadine und ich wären beste Freundinnen. Seit Sarah in der Klasse ist, hat sich das geändert.
Deutsch ist das einzige Fach, in dem ich keine Eins habe. Sorry, was soll ich machen? Zumindest bin ich in der Klasse nicht allein mit Migrationshintergrund. Das klingt so sachlich. Anders. Fremd. Da ist noch Li-Ming aus China und Erol aus der Türkei.

Mama besteht darauf, dass wir auch zu Hause Deutsch sprechen. Meine Eltern konnten nicht genug kriegen von Leopolds akzentfreien deutschen Lauten. Mein Deutsch ist eigentlich auch nicht schlecht, aber wie ich schon gesagt habe: Man merkt, ich bin nicht von hier.
Wir sind bereits lange in Wien. Anfangs dachte ich, Wien verschluckt mich. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie es vorher war. Ich merke mir aber Gerüche. Voriges Jahr besuchte uns die Großmutter. Das letzte Mal, als ich sie davor gesehen hatte, war vor vielen Jahren in Aleppo. Sie roch nach Zimt und alten Kleidern. Süß, aber auch modrig. Sie brachte selbstgestrickte Westen mit und stand den ganzen Tag in der Küche. Unsere Wiener Wohnung roch immer nach Essen. Und sie bestand darauf, dass ich alles aufaß, was auf den Teller kam. Mama war froh, dass die Großmutter ihr das Kochen abnahm.

„Wir sind Christen und mussten fliehen“, erklärte mir Papa, als ich alt genug war, um Fragen zu stellen. Zu der Zeit wuchs mir bereits ein dunkler Haarflaum über der Oberlippe. Das Dunkle, das Fremde, das Behaarte, es kommt von Papa. Mama ist blass und hat kaum Körperbehaarung. Allein ihre hellen Augen habe ich von ihr. Das Leben ist so ungerecht!

Am Sonntag gehen wir alle gemeinsam in den Gottesdienst. Ob ich an Gott glaube? Ich weiß es nicht. Für meine Eltern mache ich jedenfalls mit. Die kirchliche Gemeinschaft und der Zusammenhalt in der Pfarrgemeinde sind ihnen wichtig. Wie lange ich da noch mitkomme? Ich weiß es nicht.

Das österreichische Mädchen neben mir damals in der Volksschule war sehr freundlich und hilfsbereit, als ich in die neue Klasse kam. Sophie war ihr Name. Sie war klein und zierlich, hatte honigfarbenes Haar und braune Augen. Sie erklärte mir alle Aufgaben. Dabei sprach sie ganz langsam. Langsamer als die Lehrerin, die ich anfangs kaum verstand. Schnell lernte ich allerdings die deutsche Sprache und konnte mich bald gut verständigen. Nur ein schwacher Akzent aus Aleppo ist mir geblieben.

Ich lud Sophie zu meiner Geburtstagsfeier ein, aber sie kam nicht. Ich war enttäuscht. Vielleicht war die Einladung zu spontan, zu offensiv gewesen. Papa hatte einen Tag vor meinem 9. Geburtstag in seinem bruchstückhaften Deutsch unsere Adresse und seine Handynummer auf einen Zettel gekritzelt, den ich Sophie übergab. Noch am selben Tag kam die freundliche, aber sachliche Absage von Sophies Eltern. Sophie habe Geigenunterricht und könne daher leider nicht zur Feier kommen.

Ich hatte keine Lust mehr, meinen Geburtstag zu feiern und zog die Bettdecke über meinen Kopf. Im Nachhinein war ich mir sicher, dass Papa Schuld hatte an Sophies Absage. Die Einladung war zu plump formuliert. Die Eltern von Sophie kannten meine nicht mal vom Sehen. Hier in Österreich kann man nicht einfach so eine Einladung am Tag davor aussprechen wie vielleicht in Aleppo üblich. Die Österreicher sind zu verschlossen und meistens auch verplant. Darum habe ich mir geschworen, bei Stefan zurückhaltend zu sein. Und vor allem niemals einen ersten Schritt zu setzen.

Und jetzt weiß er von Nadine, dass ich auf ihn stehe. Manchmal bin ich froh, dass seit Herbst distance learning ist. Ich muss ihm wenigstens nicht in die Augen schauen. Jetzt, wo er die Wahrheit kennt. Auch wenn ich ihn total vermisse. Echt krass vermisse.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Leopold zu reden aufhörte. Es war am 29. Mai im letzten Jahr. Die Schulen hatten nach dem ersten Lockdown wieder geöffnet. Leopold und ich waren im „Schichtbetrieb“, also tageweise entweder in der Schule oder zu Hause. Die Corona-Maßnahmen sahen vor, dass die Kinder getrennte Eingänge benutzen und in den Pausen an den Plätzen sitzen bleiben mussten. Nur Klo gehen war erlaubt. Mit Maske natürlich. Leopold hatte bereits vor Schulbeginn ängstlich auf das Video reagiert, das die Volksschule zur Verfügung gestellt hatte. Darin wurde gezeigt, wie der Maskenalltag in der Schule ablaufen sollte. Das Video war für kleine Kinder aufbereitet. Zeichentrickfiguren und eine fröhlich-quirlige Hintergrundmusik sollten dem Prozedere wohl etwas von seiner möglichen „Bedrohung“ nehmen.

In der großen Pause packten die Kinder in Leopolds Klasse die Brote aus. Falteten ordentlich ihre Stoffservietten, wie von der Lehrerin gefordert, auf ihren Plätzen auf. Jedem Kind war ein eigener Tisch zugeteilt. Der Junge neben Leopold bot ihm etwas von seinem Brot an. Er hielt es Leopold unter die Nase. Die Lehrerin kreischte: „Abstand!“ Ein weiterer Junge schrie: „Wäähh, der hat sicher Corona, nicht von dem Brot essen!“ Leopold begann zu weinen.

Die Lehrerin informierte Mama von dem Vorfall und sie möge bitte Leopold sofort abholen. Er wäre außer sich, würde nicht aufhören zu weinen und die anderen Mitschüler stören.

Mama schnallte Ferdinand im Tragetuch um ihren Bauch und hastete zur Volksschule. Ihr Mund-Nasen-Schutz war verrutscht, ihre Brille angehaucht, als sie Leopold im Foyer der Schule in die Arme schloss und meinen zitternden Bruder mit Küssen bedeckte. Neben ihm hatte die Lehrerin einen riesigen Sack an Unterrichtsmaterialien für ihn vorbereitet, den Mama „sicherheitshalber“ mit nach Hause nehmen sollte. Man wisse ja nicht, wann sich das Kind beruhigen würde. Vielleicht wäre homeschooling für den Rest der Woche ohnehin besser für Leopold. So erzählte es mir Mama, als sie mit meinen Brüdern wieder zurückkam. An jenem Tag war ich von der Schule zu Hause. Es war öd. Ich erledigte Arbeitsaufträge und im Klassenchat war nicht viel los.

Mama kochte Leopolds Lieblingsspeise: Wiener Schnitzel mit Pommes und viel Ketchup. Zu dem Zeitpunkt hatte sich Leopold bereits beruhigt. Seine schwarzen dichten Wimpern klebten zusammen wie Fliegenbeine vom vielen Weinen. Aus ängstlichen Augen blickte er mich beim Essen an. Ich stocherte herum und hatte irgendwie keinen Hunger. Unter dem Tisch bettelte der Hund. Als Mama Ferdinand einen Breilöffel in den Mund schob, nahm ich ein Stück Fleisch vom Teller und hielt meine offene Hand unter den Tisch. Es dauerte nicht lang, bis ich die feuchte Hundeschnauze an meiner Hand schnüffeln fühlte. Rocco holte sich das Fleisch von meiner Hand und leckte mit seiner rauen Zunge meine Handfläche sauber. Leopold starrte mich mit seinen dunklen Augen an. Ich warf ihm einen drohenden Blick zu, der so viel bedeutete wie: „Sag‘ nichts“, was er auch nicht tat. Mama war immer noch damit beschäftigt, löffelweise Brei in Ferdinand hineinzuschaufeln. Die Hälfte davon lief ihm seitlich wieder aus dem Mund heraus. Mama fing die Breispuren geschickt auf, bevor sie Ferdinands Kinn erreichten und schaufelte die Reste zurück in Ferdinands Mund. Mir ekelte vor dem Brei.

Ich schnitt ein weiteres Stück Fleisch ab und wiederholte den Vorgang. Rocco nahm es sich wieder von meiner Hand und winselte nach mehr. Mama blickte kurz auf. Sie hasst es, wenn der Hund zu betteln anfängt. Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als würde ich mir das nächste Stück Fleisch herunterschneiden, um es zu verzehren. Mama war bereits wieder abgelenkt: Ferdinand hatte mit seinen Patschhänden in die Breischüssel gefasst.  Leopold fixierte meine Hände. Sah zu mir auf. Machte den Mund auf. Aber nichts kam raus. Ich legte den Zeigefinger über meine Lippen. Er nickte und schloss den Mund wieder. Rocco wartete auf sein nächstes Fleischstück. Ich schnitt das ganze Schnitzel Stück für Stück auf und fütterte den Hund, bis kein Bissen mehr übrig war. Leopold war immer noch am Kauen. Eine ewige Bewegung. Wie in Zeitlupe. Ich sah, dass seine Hände völlig aufgeraut waren. Teilweise war die Haut aufgesprungen vom vielen Waschen und Desinfizieren in der Schule. Er tat mir leid. Seine kleinen, zarten Hände, so rau wie nach tagelanger Stallarbeit. Ich räumte den Tisch ab und strich Leopold über seinen Kopf. Er lächelte mich an. Wir hatten einen Pakt geschlossen. Er würde Mama nichts erzählen, davon war ich überzeugt. Im Nachhinein mache ich mir Vorwürfe, dass es meine Schuld war, dass Leopold verstummte.

Meine Jeans waren während des ersten Lockdowns ziemlich eng geworden. Ich habe die pyknische Statur von Papa geerbt. Meine Glieder sind kurz, die Knochen offenbar schwer. Ich neige zu schneller Gewichtszunahme.

Die Jeans schnürten meinen Bauch ein, der über dem Bund unschön überquoll, setzten meine Oberschenkel in Szene, die ich ohnehin abgrundtief hasste und fraßen sich gierig in meine Pobacken hinein, als gäbe es kein Morgen. Ich zwängte mich dennoch in dieselbe Größe, ja, sah es gar als Ansporn, dünner zu werden. Im ersten Lockdown hatte ich zu viel Süßes gegessen. Bin nur herumgehockt, habe gechattet und das Haus nicht verlassen. Nur, wenn Mama der Meinung war, es wäre an der Zeit, nach ein paar Tagen mal wieder Luft zu schnappen. Dann bin ich zum Billa gegangen und habe eingekauft. Das war schon das Erlebnis des Tages gewesen. Ansonsten bin ich auf meinem Bett herumgelegen mit dem Handy, habe Filme gestreamt, Musik gehört oder YouTube Videos geschaut. Es gab kaum etwas zu tun für die Schule. Mir war so langweilig! Als ich dann erfahren habe, dass Nadine Stefan geschrieben hat, dass ich auf ihn stehe, bin ich richtig wütend geworden! Auf Nadine, auf Sarah, die mir Nadine während dem Lockdown weggenommen hat. Ich habe dann gefressen, was das Zeug hielt. Und danach bin ich laufen gegangen. Irgendwie hat es mir den Schalter im Hirn umgelegt. Ich wollte mich plötzlich bewegen. Wollte abnehmen! Hab‘ versucht, das schlechte Gewissen, den vielen Zucker, das ganze Teufelszeug, das sich in meinem Magen, meinem Darm, meinen Gliedern niederließ, bequem machte, sich ausbreitete, um für immer zu bleiben, loszuwerden. Ich musste Abhilfe schaffen, musste das Essen tottrampeln, es vernichten. Abführmittel kriegt man übrigens ganz ohne Rezept. Man muss nur verschiedene Apotheken aufsuchen, damit es nicht auffällt. Denn einem Teenager geben sie das doch nicht mir nichts dir nichts. Aber kaum steht eine alte dicke Frau da und jammert über ihre schlechte Verdauung, drängen sie ihr das förmlich auf. Bewerben die unterschiedlichen Arten von Abführmitteln und erklären minutenlang die Anwendungsmethoden und Wirkungsweisen.

Ach, wie habe ich mich gehasst für meine Disziplinlosigkeit! Mit Rocco bin ich auch Gassi gegangen. Mama und Papa waren erstaunt und erfreut, dass ich plötzlich freiwillig eine tägliche Runde mit ihm machte. Ich dachte mir: Dem Rocco schadet es auch nicht. Jetzt, wo er so viel Fleisch von mir kriegt. Ich kicherte bei dem Gedanken, dass ich sie alle austrickste. Sie waren zu beschäftigt. Mit dem Baby Ferdinand, mit Leopold, der nichts mehr sprach, mit der Arbeit. Ich begann, für die Familie zu kochen. Sogar Brot habe ich gebacken. Mama war begeistert von meiner neuen Häuslichkeit. Hat gar nicht gemerkt, dass ich sie alle gefüttert habe, während ich selbst nur die Krumen aufgepickt habe. Leopold hat weiter geschwiegen. Aber mein Brot hat er gegessen. Ich habe es ihm dick mit Butter beschmiert, bis die Scheibe vom Fett richtig glänzte. „So magst du es doch am liebsten!“, sagte ich zu ihm und zwinkerte ihm zu.

Dann kam der Sommer. Endlich Lockerungen! Wir hangen im Schwimmbad ab. Nadine, Sarah und ein paar Jungs aus der Klasse. Manchmal war auch Stefan dabei. Ich hatte bereits Gewicht verloren. Nadine meinte, dass es mir gutstehen und ich eine Figur wie ein Model haben würde. Wann ich endlich auf Insta meine neue Figur posten würde. Und dass ich doch auf Stefan zugehen sollte. Er würde ja sowieso wissen, dass ich ihn mochte. Ich war außer mir und fauchte: „Auf keinen Fall! Auf keinen Fall, hörst du? „Jetzt chill mal, Maria“, meinte sie. Sarah setzte sich neben uns und fragte: „Was geht, Leute? Sollen wir vom 10-Meter-Brett springen?“ Die Jungs stehen auch oben. Ich schüttelte den Kopf.  „Maria ist beleidigt“, sagte Nadine. „Warum?“, fragte Sarah. Ich flehte sie mit einem Blick an und schüttelte den Kopf. Nadine grinste und sagte: „Ach, nichts. Komm‘ Sarah, wir gehen zum Turm.“ Ich packte meine Sachen zusammen und ging nach Hause.

Auf die Spaziergänge mit Rocco hatte ich keine Lust mehr. Widerwillig ließ ich mir die Leine in die Hand drücken und ging meistens nur in den Hof mit ihm hinunter, wo er sein Geschäft verrichtete. Keine ausgedehnten Runden mehr im Augarten. Rocco wurde dicker. Ich dünner. Meinen Eltern fiel es erst auf, als es Herbst war und die Schule wieder auf distance gestellt wurde.

Ich hatte die dicken, selbst gestrickten Wollwesten meiner Großmutter aus Aleppo mehrfach übereinander an, weil mir saukalt war. Als sie damit angekommen war letztes Jahr, hatte ich sie abgelehnt. Zu unmodern, zu weit schienen mir die kratzigen Dinger, die ich allerdings ihr zuliebe anprobiert hatte. Danach verschwanden sie in meinem Schrank. Im Herbst entdeckte ich sie wieder und kramte sie hervor. Sie erfüllten jedenfalls ihren Zweck. Da ich ohnehin nur zu Hause hockte, war es schließlich auch egal, was ich trug. Ich hatte aufgehört meine Gewichtsreduktion auf Insta zu dokumentieren. Und so blieb ich den ganzen Tag im Pyjama und wickelte die Westen darüber. Die Kamera im online-Unterricht blieb auf off. Für mich selbst hielt ich natürlich jedes Gramm fest, das ich von Tag zu Tag verlor. Ein rauschgleiches Glücksgefühl überfiel mich jedes Mal, wenn ich mich auf die Waage stellte und weiteren Gewichtsverlust feststellte. Die Jeans waren bequem geworden. Hangen locker über meine Hüften, schnürten nirgends mehr ein. Ich fühlte mich großartig. Bis mich Mama einmal ansprach und bat, die Westen auszuziehen. Als ich das tat, entfuhr ihr ein kurzer Schrei, und sie machte das Kreuzzeichen. Sie rief Papa.  Dann redeten die beiden auf mich ein. Ich solle doch mehr essen. Ich sähe nicht gesund aus. Was denn mit mir los sei? Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was sie meinten und sagte, dass ich mich so wohl wie nie zuvor fühlen würde. Ob sie denn nicht sehen könnten, wie schön schlank ich geworden sei.

Von dem Moment an beobachteten mich meine Eltern mit Argusaugen bei allen Mahlzeiten, die wir gemeinsam am Tisch einnahmen. Der Trick mit dem Hund funktionierte nicht mehr. Das Abführmittel wirkte zunehmend schlechter. Vielleicht, weil ich zu wenig Nahrung aufnahm. Ich musste mir also etwas anderes einfallen lassen. Ich überlegte, ob ich es schaffen würde, den Finger hineinzustecken, um zu erbrechen. Aber ich konnte es nicht. Ich war verzweifelt. Ich spürte bei jedem Bissen, wie zuwider mir das Essen war. Wie mein Körper versuchte, dem Essen den Zugang zu verwehren. Ich kaute minutenlang an einem Bissen herum, und wenn ich schließlich schluckte, presste ich Tränen aus den Augen.

„So geht das nicht weiter!“, sagte Papa verzweifelt. EIN krankes Kind wäre doch schon genug. Er starrte auf den stummen Leopold, der den Kopf senkte und weiter artig seinen Teller aufaß.

„Nichts in der Welt bringt mich dazu, das zu essen!“, schrie ich und stand vom Tisch auf.

Ich schloss mich in meinem Zimmer ein und heulte. Nicht, weil ich meine Familie enttäuscht hatte, sondern weil ich 2 Bissen von dem Reis gegessen hatte. Ich holte mein Springseil unter dem Bett hervor und sprang minutenlang mit dem Seil, bis ich erschöpft am Boden zusammenbrach.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, was danach passierte, aber als ich wieder aufwachte, lag ich im Krankenhaus.

Schon witzig. Für Leopold war kein Platz hier und für mich sofort.
Ich starre auf die Schläuche aus meinen Armen. Sehe die blauen Linien unter der Haut, die wunderschöne Striche durch meinen ganzen Körper ziehen. Zu essen bekomme ich über eine Sonde. Flüssignahrung. Ich fotografiere die Schläuche, meine Arme. Für mich, nicht für Insta. Ich finde, ich sehe richtig gut aus. Ich überlege, wie ich das Essen in mir loswerden kann. Sie glauben, sie kriegen mich klein. Sie glauben, ich checke das nicht. Das mit der Flüssignahrung. Die macht auch dick. Das weiß ich. 30 kg haben sie gesagt, muss ich erreichen. Ich werde im Krankenhausgarten meine Runden gehen. Wieder und wieder. Bis ich müde werde und mich auf die Bank setze. Vielleicht kommt dann Julia vorbei und setzt sich neben mich. Julia ist ein paar Jahre älter als ich, 17. Die hat es wirklich richtig Scheiße erwischt. Julia ist depressiv. Ritzt sich die Arme. Sie hat sogar versucht, sich umzubringen. Mit Tabletten. Dann haben sie ihr den Magen ausgepumpt und sie hierhergebracht. Julia mag ihr Leben nicht, hat sie mir erzählt. Ihre Noten seien schlecht. Sie würde den Abschluss nicht schaffen. Welchen Job sollte sie also je kriegen? Wozu sollte sie sich daher abquälen? Es gäbe für sie eh keine Perspektive. Keiner würde sie verstehen, sagt Julia. Aber ich zumindest ein bisschen. Das freut mich. Endlich habe ich wieder eine echte Freundin.

Ich lache über meinen lächerlichen Oberlippenflaum und wie ich ihn immer entfernt habe, nun da mein gesamter Körper von einem einzigen Flaum bedeckt ist. Ich werde zum Affen, denke ich. Aber zumindest kein schwerer. Einer, der leicht von Baum zu Baum hüpfen kann, denke ich. Schwerelos beinahe. Ich bin ihnen allen überlegen.

Das morgendliche Wiegen ist total Scheiße. Wir müssen unser Wochenziel erreichen, heißt es. Die anderen Mädchen und ich. Jungs sind keine hier. Immer heult eine. Entweder, weil sie ein paar Gramm zugenommen oder weil sie das Wochenziel nicht erreicht hat. Ich kämpfe irgendwie dazwischen. Schlucke meine eigenen Tränen hinunter wie einen Kloß ekelhaften Essens. Ich will nicht zunehmen. Es kapiert einfach keiner. Endlich, endlich bin ich nicht mehr der Mops von früher.

Sie sagen, ich gefährde meine Gesundheit, wenn ich weitermache wie bisher. Gefährde sogar mein Leben! Diese Dramatik ist echt übertrieben. Ich bin noch eine von den Dicken hier, wenn ich mir die anderen Mädchen ansehe. Ich habe das im Griff, sage ich denen. Tag für Tag. Sie wollen es halt nur nicht kapieren.

Mama sieht mich anders an seit ich hier bin. Durchdringend und besorgt. Als würde sie mich nicht kennen. Als würde sie sich fragen, wer ist dieses fremde Mädchen? Sie nimmt mich zum ersten Mal in meinem Leben richtig wahr. Ich habe ja bisher nie Probleme gemacht. War eine sehr gute Schülerin und eine brave Tochter. Sie hat genug zu tun mit Leopold und Ferdinand.

Papa sieht besorgt aus. Wenn er mich besuchen kommt, streicht er mir über meinen Kopf. Die Haare sind mir ein wenig ausgefallen. Sie hängen unordentlich von allen Seiten ab, sind strähnig und ausgefranst. Aber das macht nichts. Julia sagte, ich solle einfach ein cooles Tuch tragen. Dann sähe ich zwar aus wie eine Leukämiekranke, aber wenigstens nicht wie eine irre Essgestörte. Sie lachte. Ich auch.

Ich habe mich letztlich gegen das Tuch und für die Farbe Lila entschieden. Julia hat mir die Haare gefärbt. Sieht stark aus.

„Anorexia nervosa“, stand am Anamneseblatt. Man erklärte meinen Eltern, was das sei. Sie haben nur die Hände über den Kopf gelegt und in ihrer Muttersprache zu Gott gebetet. Die Ärzte sagten, ich müsse mindestens 6 Wochen auf der Station bleiben. Bis die 30kg-Marke erreicht ist. Falls ich das nicht schaffe, muss ich länger bleiben. Ich schalte mich manchmal zum online-Unterricht dazu. Einfach so. Weil mir langweilig ist und weil die Ärzte sagen, es würde mir guttun, meine Mitschüler zu hören. Nach den Ferien würde ich sie auch wiedersehen. Denn da müssen die Kameras alle eingeschaltet werden. Aber das sagte ich ja schon.

Leopold hat wieder begonnen, ein paar Worte zu sprechen. Die Frau vom psychosozialen Dienst kommt nur mehr einmal in der Woche. In die Schule geht er immer noch nicht. Aber das macht nichts. Derzeit ist ja ohnehin wieder Lockdown. Da sind kaum Kinder in der schulischen Betreuung. Unterricht gibt es keinen. Wieder homeschooling, auch für die Kleinen. Nur wenige, kurze Sätze entgleiten seinem Mund. Aber er entlässt sie wieder, die Worte. Seine schön ausgesprochenen Worte, die den ganzen Raum füllen. Worte, die meine Eltern glücklich machen. Vielleicht auch, um ihnen ein wenig das Leben zu erleichtern. Auch er sieht: EIN krankes Kind in der Familie ist genug. Unsere geheime Abmachung. Er war lange genug dran. Nun bin ich an der Reihe.

Ferdinand macht bereits seine ersten Schritte. Er gluckst, wenn er mich sieht. Er kennt mich nicht anders. Kennt nicht den Mops von früher und das ist gut.

Ich sollte Mama sagen, dass sie auf sein Gewicht achten muss. Er hat zu viele Speckröllchen. Man kann gar nicht bald genug damit anfangen, dem Fett entgegenzusteuern. Damit er nicht so ein Mops wird, wie ich es war. Er hat ebenso die starken Knochen und Glieder von Papa, der Arme. Nur Leopold ist immer zart gewesen wie Mama es ist. Schlank und schön. Und Mama kostet es keine Mühe, ihr Gewicht zu halten. Auch das ist unfair. Ich muss dafür bewusst hungern und bin immer noch dick.

Die Therapeutin sagt, ich soll weiterschreiben. Es würde mir guttun, dem Tagebuch alles anzuvertrauen.

Die Flasche tropft in meinen Körper. Aber ich bleibe leer.

Mein IPhone macht „Bing“. Eine Nachricht von Stefan. Mein Herz klopft wild. Meine Hände zittern. Ich habe Angst, die Nachricht zu öffnen. Schließe die Augen. Öffne sie wieder und halte den Atem an. Ich drücke auf die Nachricht und lese: „Hey, was machst du für Sachen? Die Strickweste ist cool. Du siehst aus wie Kurt Cobain von Nirvana, nur mit lila Haaren. Freu‘ mich, wenn wieder Schule ist.“ Zwinkender Emoji.

Ich spüre, wie mir Tränen ins Gesicht schießen. Ich zittere immer noch. Hinterlasse feuchte Spuren meiner Fingerabdrücke auf dem IPhone. Lege es zur Seite. Atme tief durch. Frage mich, woher er weiß, dass ich die Westen meiner Großmutter trage. Woher er weiß, dass ich lila Haare … Bestimmt hat Nadine …

Ich greife nach dem Iphone, umklammere es, bevor sie es mir wieder abnehmen.
Kurt Cobain gibt es nicht mehr, so wie Avicii. Wir passen gut zusammen, Stefan und ich.
Ich schreibe: „Ich freue mich auch, wenn wieder Schule ist. Und wie.“

Liebes Tagebuch, ich werde versuchen, die 30 kg zu erreichen. Damit ich hier rauskomme. Und damit ich Stefan sehen kann. Irgendwann. Wenn es wieder erlaubt ist.