Es ist das gleiche Sirenengeräusch wie damals. Jul lässt die Packungen fallen. Glas klirrt. Flüssigkeiten werden zu Pfützen. Tabletten kugeln auf den Boden. Weiße, blaue, grüne, gelbe, rote.
Wir müssen abhauen!, hört er Ferdis Stimme. Jetzt komm, Oida, die Kiberei!
Jul hält sich die Ohren zu. Die Zahlen und Buchstaben auf dem dunklen Holz der Apothekenschränke verschwimmen vor seinen Augen. Nur die 7 bleibt scharf. Jul bewegt sich nicht.
So wie damals.
Die Sonne hatte bereits im Juni braune Löcher in die Wiese gebrannt.
Ronaldo trug die Nummer 7. Und Jul trug Ronaldo. Rotes T-Shirt, schwarze 7.
Juls kleiner Bruder Erik saß in der Sandkiste. Er füllte feuchten Sand in einen blauen Kübel, klopfte ihn mit einer Schaufel fest, drehte den Kübel um und stülpte Sandkuchen auf den Rand der Sandkiste.
Die Mutter saß daneben auf einem Gartenstuhl und blätterte in einer Zeitschrift.
Bald schon standen mehrere Sandkuchen nebeneinander. Manche waren perfekt in Form gegossen, andere weniger, ein paar rieselten in sich zusammen. Dann machte Erik neue. Er lächelte zufrieden.
Jul kickte einen Ball auf der Wiese.
Am Zaun stand die Nachbarin. Ihre dunklen Haare klebten in Strähnen auf der Stirn, auf den geröteten Wangen. Ihr Gesicht war von der Hitze aufgequollen. In den Händen hielt sie einen Korb mit frisch gepflückten Kirschen. Sie winkte die Mutter zu sich.
Die Mutter stand auf, tätschelte Eriks Kopf und sagte, brav sitzen bleiben, ich komm gleich wieder.
Sie rief Jul zu, kannst du kurz auf deinen kleinen Bruder schauen?
Ronaldo Superstar schießt ins … Tor!, jauchzte Jul und sah zu seiner Mutter, die ihm bereits den Rücken gekehrt hatte.
Er schoss den Ball Richtung Sandkiste und lief hinterher. Der Ball rollte daran vorbei und den Hang hinab. Bis unter den Kirschlorbeerstrauch. Jul rannte dem Ball nach. Er drehte sich zu Erik um. Dann zur Mutter. Die hing mit den Armen über dem Zaun und hatte begonnen, mit der Nachbarin zu tratschen.
Jul legte sich auf den Boden und den Kopf quer auf die Erde. Er lugte unter den Strauch. Der Ball war nicht zu sehen. Jul robbte auf dem Bauch entlang, schlug mit der Hand ins Gebüsch, klopfte es ab. Der Ball blieb verschwunden. Als hätten ihn die Büsche, die Erde verschluckt.
Jul gab schließlich auf und ging zurück zur Sandkiste. Erik war fort.
Jul rannte hinunter zum Teich. Die Goldfische schwammen nervös und näher am Ufer als sonst umher. In der Mitte des Teichs schaukelte der blaue Sandkübel im Wasser.
Jul schrie und blieb stehen. Er regte sich nicht. Die Mutter kam herbeigestürzt und ließ den Korb fallen. Dunkelrote Kirschen rieselten auf die Wiese, auf den Schotter, ins Wasser.
Die Mutter watete hinein. Sie griff nach dem reglosen Erik, der mit dem Gesicht nach unten an der Oberfläche trieb. Sie fischte ihn aus dem Teich, trug ihn an Land, legte ihn auf den Boden und begann mit der Wiederbelebung. 1, 2, 3, 4, … pumpen pumpen pumpen. Dann Luft in den Mund hineinpusten. Jul stand hinter der Mutter. Unfähig, auch nur einen Fuß zu heben.
Wenige Minuten später Sirenengeheul. Ein Krankenwagen hievte Erik auf eine Trage. Die Mutter kletterte in den offenen Rettungswagen und mit Blaulicht und Sirenen fuhren sie davon. Jul sprang in die Sandkiste und zerstörte alle Sandkuchen. Dann krümmte er sich wie ein Wurm im Sand. Er weinte und blieb liegen. Irgendwann sah er, wie sich die Zehen der Nachbarin mit dem abgebröckelten roten Lack auf den Nägeln in den Sand bohrten. Die Nachbarin hob ihn auf, strich über sein gelocktes Haar. Sie fütterte ihn mit Kirschen. Bis seine Lippen kirschrot gefärbt waren. Bis er Magenkrämpfe bekam, nachdem sein Mund ausgetrocknet und er zuviel Wasser hinuntergekippt hatte.
Es war ein Unfall. So begannen von nun an alle Gespräche mit den Erwachsenen: Den Psychologen, den Ärzten, den Lehrern, der Mutter. Jul hörte ihnen zu und war doch nicht da. Stets saß er auf einem harten Stuhl. Gegenüber der Erwachsene, Juls Blick suchend, auf Jul einredend. Juls Augen wanderten zum Fenster. Gefangengehalten durch einen auf einem Zweig landenden Vogel, ein zwischen den Bäumen umherkletterndes Eichhörnchen, eine Taube, die auf der Straße Essensreste aufpickte, die Müllabfuhr beim Entleeren der Container. Dinge liefen neben ihm ab wie das Wetter. Die Abläufe funktionierten. Jul funktionierte nicht. Er redete zu wenig für sein Alter, schloss sich keiner Gruppe an, verweigerte Schulveranstaltungen. Die Ärzte waren nicht sicher, ob sein Verstummen Folge des Traumas um Erik gewesen war oder ob die autistische Veranlagung, wie sie in seiner Krankenakte beschrieben wurde, nur darauf gewartet hatte, auszubrechen. Später, als die Akte immer mehr Papier aufnahm, kamen Zahlen und Ziffern dazu, Abkürzungen ICD-10 … und so weiter. Juls Mutter war anfangs bei den Gesprächen und Beratungen anwesend, später nicht mehr. Sie kam nicht aus dem Bett, weil die Flasche Rotwein zu schnell leer geworden war oder weil sie einfach so nicht aufstehen konnte.
Und irgendwann, als es dunkel war, hat Jul sie selbst gekostet. Die kirschrote Flüssigkeit, die überall in offenen Flaschen im Haus herumstand. Manchmal lagen auch kleine bunte Tabletten, die aussahen wie Smarties auf dem Küchentisch oder im Bad. Auch sie probierte er aus. Eine nach der anderen. Er fand heraus, dass jede Pille eine andere Wirkung hatte. Die, nach der ihm der Mund allzu trocken wurde und alle Schleimhäute anschwollen, dass er in so einen tiefen Schlaf fiel und Schwierigkeiten hatte, am nächsten Morgen aufzustehen, ließ er später weg. Er merkte, dass eine andere Pille die Farben bunter, die Menschen fröhlicher und seine Traurigkeit weniger machte. Jene Traurigkeit, die sich wie ein dunkler Schleier über das Haus, über die Mutter, über Jul gelegt hatte seit dem Tag, an dem Erik …
Die Schulleistungen ließen nach. Die Schulzeit ein zäher Kaugummi, den es irgendwann auszuspucken galt. Die Mutter hatte keine Kraft mehr für sich selbst und schon gar nicht für Jul. Mit 14 zog er zum Vater. Der hatte eine neue Frau und ein kleines Kind. Jul lebte unsichtbar daneben. Aber die Tabletten und die schönen Wirkungen hatte er nicht vergessen. Es fiel keinem auf, dass er sich diese mittlerweile auf der Straße besorgte. Es gab immer jemanden, der an einer Ecke stand und etwas hatte. In der Dämmerung des Spielplatzes, an wenig frequentierten Stellen des Parks, im Verdeck der Unterführung. Bis eines Tages Ferdi auf die Idee mit der Apotheke gekommen war.
Das Blaulicht blendet Jul. Er schließt die Augen und setzt sich auf den Boden. Kirschrotes Blut tropft aus Juls Finger.
Ferdis Stimme weit weg.