Der Franz-Effekt

Meine Knie schmerzen. Ich hebe den Kopf und richte meinen Blick auf das Kreuz. Ich stütze mich mit den Händen an der Rücklehne der Bankreihe vor mir ab, stehe auf und sehe auf die Uhr. Johann wartet sicher schon auf sein Mittagessen. Der Pfarrer sagt, der liebe Gott sieht alles. 

Ich klopfe den Staub von meinem Rock, mache einen Knicks und das Kreuzzeichen Richtung Altar, drehe mich um und gehe zum Ausgang. Das schwere Kirchentor öffnen. Als mir die Mittagssonne durch den offenen Spalt ins Gesicht sticht, kneife ich die Augen zusammen. Die Luft ist so dick, dass ich kaum atmen kann. „Der heißeste Tag des Jahres“, haben sie heute Früh im Radio gesagt. Mit jedem Schritt klebt mein Rock mehr an den Oberschenkeln. Ich gehe dicht am Zaun von Josefs Anwesen entlang. Seine Enkelkinder spielen auf der Wiese Fangen. Wie wir vor Jahrzehnten. Eigentlich haben wir nicht so oft Fangen gespielt. Gab ja immer Arbeit zu tun. Für Josef, Franz und mich. Josef hat als Ältester von uns Geschwistern den Hof bekommen. Und die angrenzenden Baugrundstücke. Dabei hätte jedes Kind ein Grundstück bekommen sollen – Josef, Franz und ich. 

Aber damals, als es darum ging, den Besitz aufzuteilen, suchte Josef abends Gespräche mit dem Vater. So war es immer schon gewesen, der Vater und sein Erstgeborener, gestört hat die keiner. Ich nicht und Mutter auch nicht. Die Männer durfte man nicht unterbrechen. Sie hatten wichtige Dinge zu besprechen. Mit mir redete der Vater anders. Da schlug er den gleichen Ton an wie mit der Dienstmagd. Immer ging es um irgendwelche Arbeiten, die ich erledigen sollte. Die Mutter war im Stall, in der Küche oder auf dem Feld. Auch als der Vater die Brüste der Dienstmagd im Kellergewölbe quetschte. Die Mutter mochte die Söhne lieber als mich. Eine Ausbildung zur Köchin wollte ich in der Stadt machen, aber die Eltern waren dagegen. Am Hof würden sie mich brauchen. Keiner stopfte die Socken wie ich. Im Nähzimmer, in der Nacht, da hielt mir der Vater einen Zettel unter die Nase. „Unterschreib!“ Hinter ihm die Mutter, die Brüder und der Herr Notar. Ich sah auf das Papier. „Durchlesen musst das nicht“, meinte der Vater. So ein Zirkus wegen einer Unterschrift, dachte ich und kritzelte meinen Namen auf die punktierte Linie. „Erbverzicht“ stand oben drüber. Dann widmete ich mich wieder den Socken. 

Franz bekam eine Geldablöse. Er wollte ohnehin immer weg aus dem Dorf.  

Ich gehe über den Marktplatz, an der Volksschule und am Gemeindeamt vorbei. Schön haben sie die Fassade gestrichen. Wenn es um die Gemeinde geht, hilft Josef auch mit. Genau wie früher.

Der Johann vom Dorfwirt hat damals bereits um mich geworben. Er hätte den Gasthof seines Vaters übernehmen sollen, wenn nicht der Alkohol dazwischengekommen wäre. Johann saß länger bei den Stammgästen als der Alte, und den Gasthof bewirtschaftete schließlich Johanns jüngerer Bruder. Johann und ich zogen in die Einliegerwohnung im Erdgeschoß des Gasthofs, ich erledigte den Küchenabwasch und sah der Schwägerin beim Kochen zu. Johanns Mutter starb früh an Herzversagen. Johanns Vater erkrankte an Prostatakrebs. Als es ihm zunehmend schlechter ging, pflegte ich ihn bis zu seinem Tod. Die Schwägerin musste ja im Gasthof kochen. 

Dann kam meine Lisa. Während Josef mit Schulterklopfern am Stammtisch zur Geburt seiner Söhne beglückwünscht und diese vom ganzen Dorf mit Paukenschlag begrüßt und beschenkt wurden, ging die Geburt von Lisa im Grundrauschen unter. 

Später drang aus Lisas Teenagerzimmer in der Einliegerwohnung „Girls just wanna have fun“. Ich wunderte mich, warum Lisa ständig dieses Lied spielte. Einmal klopfte ich an Lisas Zimmertür und fragte, was diese englischen Worte bedeuten. „Na, dass Mädels auch ihren Spaß haben wollen!“ Ich verstand nicht, und Lisa zog in die Stadt. 

Johann versoff seinen Verstand. Im Gasthof wollte ihn der Bruder nicht mehr sehen. Immer öfter blieb Johann nächtelang weg. Ich fragte nicht, woher er danach kam. Hauptsache, er war wieder da. 

Meine Mutter wurde zusehends dement. Auf dem elterlichen Hof war sie nicht mehr zu gebrauchen. Eine Dienstmagd gab es auch nicht mehr. Also half ich weiterhin aus. Täglich wischte ich Mutter den Hintern, wusch und fütterte sie, las ihr aus der Kronen Zeitung vor. Als die Mutter im Sterben lag, wurde Franz angerufen, damit er sich von ihr verabschieden könne. Der Mutter liefen die Tränen herunter, als Franz zur Tür hereinkam. Er sah verändert aus. Schmäler irgendwie und distanziert. Er wirkte nicht mehr wie ein Teil von uns. Wahrscheinlich war er das nie gewesen. Franz saß am Sterbebett der Mutter und las seine Zeitung. Franz fuhr wieder ab. „Der Franz war da!“, seufzte die Mutter in ihren Polster. Bis zu ihrem Ende redete sie nur mehr von Franz, wie er einmal da war. 

Ich mähte weiter den Rasen, fütterte die Hühner. Als es so weit war, schloss ich der Mutter die Augen. Vater wurde beim Baumfällen im Wald von einem herabstürzenden Ast erschlagen. Es war ein sonniger Oktobertag im vergangenen Jahr, als wir den Vater zu Grabe trugen. 

Franz kam nicht. 

Ich habe den Gasthof beinahe erreicht. Die Hühnersuppe wird nun genau richtig sein. Der Pfarrer sagt, der liebe Gott sieht alles. Wenn ich heute noch einmal bete, werde ich dieses Corona-Virus bestimmt nicht bekommen. Ich öffne die Tür zur Einliegerwohnung. Einzelne Haarsträhnen kleben schweißnass an meinem Gesicht. 

„Johann?“, rufe ich, nachdem ich die Schuhe abgestreift habe. Es riecht nach Hühnersuppe. Ich klopfe an die Tür von Lisas Zimmer, das mittlerweile Johanns Zimmer ist. Er antwortet nicht. Ich öffne die Tür und spüre einen Widerstand. Ich luge durch den offenen Türspalt und sehe, dass Johann auf dem Boden liegt. Aus seinem Mund läuft Speichel. Seine Augen sehen seltsam verdreht aus. 

Langsam schließe ich die Tür wieder. Gehe nach draußen. Gehe immer weiter. Aus dem Dorf hinaus.