Das Spielhaus

WeissNet 2.0edition igfem02/2022

Sanja und ich verabreden uns mit Agathe im Badehaus am See. Es ist eine alte Hütte, die nach feuchtem Holz riecht. Man kann die Tür von innen verriegeln und sich vor oder nach dem Schwimmen darin umziehen. Agathe kann nicht schwimmen, obwohl sie älter ist als wir. Agathe sagt, im Badehaus wird gespielt. Darum nennt sie es lieber Spielhaus. Oft nehmen wir unsere Puppen mit. Wir bürsten ihnen die Haare, wechseln ihre Kleider und setzen sie nebeneinander auf die Holzbank. Wir spielen Mutter-Kind. Wenn man durch das Fenster hinaussieht, blickt man direkt auf den See. Die Wasseroberfläche glitzert, als würden Sterne auf ihr tanzen.
Agathe ist klein und hat kurze braune Haare. Sie trägt eine dicke Brille, hinter der ihre Augen riesenhaft erscheinen. Sie lacht immer und zeigt ihr Zahnfleisch. Auch wenn sie nicht spricht, steht ihr Mund ein wenig offen. Sie hat stets Süßigkeiten eingesteckt, von denen sie uns oft etwas abgibt. Wir mögen Agathe, obwohl sie Mundgeruch hat. Die anderen Kinder sagen gemeine Worte zu ihr. Sie bekommen keine Süßigkeiten von Agathe.

Heute werden wir ein neues Spiel spielen, hat Agathe vorgeschlagen. Wir sind neugierig, als wir die Tür aufmachen. Es ist dunkel im Badehaus. Jemand hat die Fensterläden zugemacht. Wir erkennen Alfred und Karl, die Buben vom Brandner Bauern, auf der Holzbank. Agathe sitzt neben Karl. Wir schließen die Tür hinter uns.
Ich frage, ob wir nicht die Fensterläden aufmachen wollen.
Agathe sagt bestimmt, nein. Alfred und Karl kichern.
Jetzt alle ausziehen!, fordert Agathe uns auf. Ganz nackt!, kreischt sie.

Sanja und ich schauen uns an. Agathe lacht, schlüpft aus ihrem Kleid und streift ihre Unterhose herunter. Splitternackt steht sie vor uns. Im dünnen Lichtstrahl, der durch das Fenster dringt, sehe ich Staubflocken fliegen. Und den Haarflaum auf Agathes Körper. Ich senke meinen Blick.
Karl steht auf und zieht sich auch aus. Sein Bauchnabel versinkt zwischen Hautfalten. Alfred verschränkt die Arme und sagt, da mach ich nicht mit.
Sanja schüttelt den Kopf und läuft aus der Hütte hinaus. Ich folge ihr.

Am Wochenende sollen wir wieder ins Badehaus kommen. Agathe hat eine neue Puppe von ihrem Onkel bekommen, die sie uns zeigen will. Sie verspricht uns, dass wir nur Puppen spielen werden. Wir bürsten ihnen die Haare, wechseln ihre Kleider und setzen sie nebeneinander auf die Holzbank. Agathe schiebt das Kleid ihrer Puppe nach oben, die hat ja gar keinen Schlitz – habt ihr unten einen Schlitz?
Sanja sagt, hör auf, und, ich habe keine Lust mehr auf Puppenspielen.
Wir gehen nach Hause.

Am nächsten Tag sitzt Agathe am Ufer des Badesees und hat ein Handtuch um ihren Körper gewickelt. Ihr Bauch wölbt sich nach außen.
Sie sagt, da ist mein Baby drinnen.
Dann zieht sie ihre Puppe unter dem Handtuch hervor und lacht, gestern Abend habe ich mit dem Onkel wieder im Spielhaus gespielt.

Der Sommer glüht. Wir sind viel draußen am See und gehen schwimmen. Agathe ist nicht mehr so oft dabei. Das Badehaus ist jetzt geschlossen. An der Tür hängt ein Schild, auf dem steht: Einsturzgefahr!
Alfred sagt, Agathe kommt in ein Heim.

Kurz vor Schulbeginn sehen wir Agathe bei der Bushaltestelle. Sie ist sehr dünn geworden. Ihr Mund steht offen. Sie lacht nicht.
Wir sagen, hallo Agathe.
Sie sieht durch uns hindurch.